Die aktuelle CD von Doris Orsan mit Werken von Johann Sebastian Bach und Nikolaus Brass

Schon Johannes Brahms hielt sie für „eines der wunderbarsten, unbegreiflichsten Musikstücke“; Yehudi Menuhin nannte sie „die großartigste Struktur für Solo-Violine, die es gibt“, sein Nachfolger Joshua Bell sogar „nicht nur eines der größten Musikstücke, die je geschrieben wurden, sondern eine der größten Leistungen eines Menschen in der Geschichte.“ Gemeint ist die „Ciaccona“ von Johann Sebastian Bach, der vermutlich erst später – vielleicht unter dem Eindruck des Todes seiner ersten Frau Maria Barbara 1720 – hinzugefügte fünfte Satz der Partita Nr. 2 d-moll, BWV 1004. Diese 64 freien Variationen über ein Bassthema – eher unter dem französischen Begriff „Chaconne“ bekannt und ursprünglich ein spanischer Tanz – sind nicht nur fast so lang wie die anderen vier Sätze zusammen. Sie vor allem begründeten den Rang von Bachs Zyklus von sechs Partiten und Sonaten für Solo-Violine als einen Gipfel der Geigenliteratur, technisch wie musikalisch.

So hat auch die Geigerin Doris Orsan ihr neues Solo-Album „Ciaccona“ betitelt, obwohl sie natürlich nicht nur diesen Satz, sondern die kompletten beiden ersten Partiten von Bach spielt. In der Tradition vieler großer Vorgänger macht sie mit ihrer Interpretation aufs Neue deutlich, was Bachs Musik so einzigartig macht: So vollendet ist bei ihm die Form, dass daraus eine unvergleichliche Freiheit erwächst; so grundlegend, essentiell und zeitlos sind seine musikalischen Gedanken, dass sie sich über Stile und Moden erheben und ganz im individuellen Ausdruck desjenigen aufgehen, der sie spielt. „Bachs Musik führt den Ausführenden zu sich selbst, zum eigenen Ausdruck, der zugleich in der Musik seine Allgemeingültigkeit findet,“ sagt Orsan. „In diesem Sinne gibt es nicht die eine wahre Bach-Interpretation, sein Werk nimmt alle auf, die sich auf die Suche begeben.“

Künstler:

Doris Orsan: Violine

Tracks:

Johann Sebastian Bach (1685–1750)
Partita No. 2 in D minor, BWV 1004
[01] Allemanda
[02] Corrente
[03] Sarabanda
[04] Giga
[05] Ciaccona

Nikolaus Brass (*1949)
songlines I
[06] songlines I

Johann Sebastian Bach (1685–1750)
Partita No. 1 in B minor, BWV 1002
[07] Allemanda
[08] Double
[09] Corrente
[10] Double
[11] Sarabande
[12] Double
[13] Tempo di Borea
[14] Double

Weitere Informationen und Hörproben finden Sie hier: https://www.glm.de/produkt/doris-orsan-ciaccona/

Interview mit Doris Orsan zum Album „Ciaccona“ in „IZ-Virtuos“

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CD-Besprechung in IZ-Virtuos 1/21

Zum Auftakt dieses bemerkenswerten Albums erklingt die ‘Allemanda’ von Bachs berühmter d-moll-Partita – und Doris Orsan sichert sich mit den ersten Takten die Aufmerksamkeit ihres Zuhörers. Denn der weiß – ganz gleich ob Bach-Kenner oder lediglich Musik-Liebhaber -, dass diese CD eine sensible Künstlerin und ihre Werksauffassung präsentiert. Das beseelte Spiel der Violinistin dient der Musik, macht die Ehrfurcht, aber auch die tief empfundene Liebe zu dieser überragenden Musik erhörbar.
Es gibt keine Momente banalen Virtuosentums, obschon Bach in beiden Partiten genügend verführerische Abschnitte komponierte. Stattdessen spielt die Interpretin formbewusst, unter Beachtung der Gesamtheit mit Scharfblick auf die unzähligen Details ihren Bach. Da darf ein Hörer auch mal anderer Auffassung sein – denn das gehört zur Kunst. Die ‘Ciaconna’ steht im Zentrum, doch sie überstrahlt in ihrer Monumentalität nicht. Genau so sollte es immer sein, wenn sich ein Geiger dieser Musik annimmt.
Das Bindeglied zwischen den beiden Bach-Partiten in d- und h-moll, Nikolaus Brass ́ ergreifende ‘songlines I’ ist geschickt gewählt, besticht als solches sowie in der Darstellung der Künstlerin und sorgt für eine Vertiefung des persönlichen Fingerabdrucks. Tatsächlich sollte diese CD am Stück gehört werden. Nicht einmal, sondern immer wieder aufs Neue. Es gibt so viel zu erfahren. Jetzt und in allen künftigen Stunden.

Harald Wittig

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